Vernissageansprache Galerie 6, 26. Oktober 1964

Es ist nicht Brauch, dass ein Künstler an der Vernissage selbst das Wort ergreift. Aber anstatt einem guten Freund zu sagen, was er über mich sagen soll, kann ich das ja auch selber tun.

Was ich hier ausstelle, wird für die meisten von Ihnen neu sein. Es sind lauter Sachen, die direkt vor der Natur entstanden sind und die ich eigentlich nur für mich gemacht habe.

Sie kennen von mir vielleicht Glasfenster, Wandbilder, Sgraffiti oder auch Illustrationen in Büchern; das alles ist Auftragsarbeit, bei der, neben persönlichen Wünschen des Auftraggebers, noch mancherlei die Arbeit bestimmt: Die Arbeiten sind Teil einer Architektur, sie müssen sich einfügen , sei es in eine Wand, einen Bau oder eine Buchseite. Text, Material usw. spielen eine Rolle.

Das alles sind Bindungen, die mich aber nicht etwa bedrücken, sondern stützen. Aber es ist dann doppelt schön, dies alles einmal hinter sich zu lassen und nur für sich ganz allein zu arbeiten. Was sie sehen sind zum grossen Teil Seiten aus Skizzenbüchern. Zeichnen gehört für mich zum schauen, es ist sozusagen ein Teil davon. Es ist nicht jedermanns Sache, in der Öffentlichkeit zu zeichnen, denn man ist schnell eine Sensation für die Leute, interessiert sie noch mehr als der Affe im Zoo, und das will sicher etwas heissen!

Es ist ja eigenartig: Wenn jemand unterwegs Notizen schreibt, würde es niemandem einfallen, ihm über die Schulter zu gucken und seine Bemerkungen dazu zu machen. Wenn einer aber zeichnet, meint jedermann, er könne und müsse noch etwas dazu bemerken: Die Kunstverständigen wollen zeigen, dass sie etwas verstehen, die Dilettanten wollen schnell etwas profitieren, was es kostet, wollen beide wissen. Auf dem Rennplatz hat sogar einmal ein Securitaswächter mit einem Blick über meine Schulter gefragt: „Sind sie Berufszeichner? Aha, nei"!

Wer schreibt, benutzt dafür die 25 konventionellen Zeichen unseres Alphabetes; wer zeichnet, muss eine Notizen mit Zeichen machen, die er fortwährend neu erfindet, d.h. aus den Naturformen abstrahiert, er zeichnet nicht ab, sondern setzt um. Dr. Robert Ammann hat in seinem Buch „Die Handschrift des Künstlers" die Übereinstimmung von Handschrift und Zeichenschrift anhand von Beispielen zur Genüge belegt. Skizzieren heisst somit nicht, ungefähr oder unfertig zeichnen, sondern mit höchster Konzentration endgültige und präzise Form finden.

Der Zeichner hat, um ein Bild zu gebrauchen, einen Köcher  voller Pfeile, die er abschiesst; der Skizzierer hat nur einen einzigen, mit dem muss er ins Schwarze treffen.

Es wäre an dieser Vernissage für einen Freund wirklich nicht viel Rühmenswertes zu sagen gewesen, wie das sonst üblich ist: da  ist, trotz der 20 Jahre, die zeitlich zwischen den Arbeiten liegen, keine grossartige Entwicklung aufzuzeigen. Da findet sich kein roter Faden, sondern die Sachen sind sehr verschieden, sie weisen auch nicht in die Zukunft, wie das neuerdings Mode geworden ist. Im Tagblatt fand sich kürzlich das Bild einer Fabrik mit dem Untertitel: Die Fabrik von heute, im Stil der Zukunft!

Kurz, meine Sachen gehören ganz und gar nicht zur Avantgarde, sondern sind im Gegenteil hoffnungslos gegenständlich.

Der heutige Kunstbetrieb kommt mir manchmal vor wie ein Eisenbahnzug. Es gehört zum guten Ton, dass man auf der Lokomotive fährt, dann hat man das Gefühl, dass man selbst es sei, der den Zug ziehe. In den Wagen sitzen die alten Kläuse. In Wirklichkeit lassen sich beide ziehen und kommen auch miteinander an. Spass beiseite: In späteren Jahren fragt niemand mehr, in welchem Glied er marschiert ist, da sprechen die Werke für sich allein, entscheidend ist dann, ob die Empfindung, die dahinter steht, echt ist und ob sie mit sauberen Mitteln realisiert wurde.

Es wird gern angenommen, der gegenständlich zeichnende Künstler gehe „im Walde so für sich hin und nichts zu suchen sei sein Sinn". Dem ist ganz und gar nicht so. Jedem ernsthaft schaffenden bildenden Künstler macht die jetzige Situation zu schaffen. Er empfindet die Zwiespältigkeit als Beunruhigung, die ihn wach macht und wach hält.

Mancher, der gegenständlich arbeitet, macht für sich allein abstrakte Kompositionen, um seine Arbeiten zu prüfen. Wenn er dann aber doch dem Sog der Abstraktion nicht verfällt, sondern sich widersetzt, muss er wohl seine zwingenden Gründe haben.

 Auf alle fälle ist er sich bewusst, dass er den Kontakt mit der Natur braucht. Sie alle werden die Sage von Herakles und Antäus kennen, jenem Riesen, der jedesmal, wenn Herakles ihn zur Erde schmetterte, frisch wieder aufstand, mit neuer Kraft versehen. Die Erde war nämlich seine Mutter, die ihn  stets mit neuer Kraft versah, sobald er sie berührte. erst als Herakles ihn in die Luft hielt, gelang es ihm, ihn langsam „verräbeln" zu lassen. So kommt mir heute auch manch junger Künstler vor, der meint, auf den Kontakt mit der Nat6ur verzichten zu können, und dann in der dünnen Luft des Kunstbetriebs allmählich untergeht.

Auch der ungegenständlich arbeitende braucht diesen Kontakt mit der Natur! Ein grosser Eindruck diesbezüglich war mir auf einer Grichenlandreise die Begegnung mit Ben Nicholson, dem berühmten englischen Maler, dessen Bilder ausschliesslich aus abstarakten Formen bestehen. Dieser Ben Nicholson zeichnete während der ganzen Reise aufs Intensivste vor der Natur, derart, dass er oft abends zu müde war, um seine Kabine verlassen zu können.

Vor ein paar Jahren war in Basel eine Ausstellung, in der neben abstrakten Bildern wissenschaftliche Fotos gehängt waren, die den abstrakten Formen absolut entsprachen. Es waren z.T. Vergrösserungen medizinischer Präparate oder chemischer Substanzen usw.. es zeigte sich hier, dass kein Mensch in der Lage ist, eine Form zu erfinden, die nicht in der Natur auf irgend eine Art bereits vorhanden ist. Und es fragt sich, wo denn eigentlich die Naturalisten sitzen, wenn schon die Künstler, die damals in Basel ausstellten, diese Fotos bestimmt nicht kannten. Immerhin mag interessant sein, dass in einer Ausgabe der Zeitschrift „Die Jugend" aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg, eine Anzahl anatomischer Präparate und mikroskopierter Objekte abgebildet waren mit dem Hinweis „Zur Anregung für die Herren Künstler". Jedenfalls ist es witzig festzustellen, dass diese abstrakten Formen in der Basler Ausstellung viel eher als Imitation der fotografischen Naturformen wirkten als je eine gemalte Kuh vor einer wirklichen.

Nun tönt das gerade so, als sei ich ein Gegner der abstrakten Kunst. Das ist aber gar nicht so. Ich wende mich einzig gegen den Ausschliesslichkeitsanspruch! Ich weiss sehr wohl, welche Bedeutung die abstrakte Kunst in der heutigen Welt hat, wo nicht mehr allein gilt, was das unbewaffnete Auge sieht, sondern durch Teleskope, durch Mikroskope und durch Satelliten Dinge erscheinen, die man bis anhin nicht kannte. Darin mitzuarbeiten, d.h. alle diese Dinge auch künstlerisch zu bewältigen, ist sicher eine grosse Aufgabe.

ABER: Neben all dem Neuen, Neben Atombomben, Raketen und Automation, gibt es immer noch, was von jeher existierte: einen Apfelbaum, Vögel-Pferde-Schiffe, ja es gibt sogar noch den Menschen. Ich finde das immer noch gleich erregend schön, und es würde mich herzlich reuen, wenn es mich eines Tages nicht mehr interessierte. Die Erde, meine ich, ist immer noch ein Acker, der die Arbeit lohnt. Und die gegenständliche Kunst ist noch nicht gegenstandslos geworden.

Im Erinnerungsbuch des Malers Ernst Morgenthaler findet sich eine nette Anekdote von einem Besuch beim Maler Paul Klee in München. Klee machte es besonders Spass, seinen Kunsthändlern Zeichnungen seines kleinen Sohnes Felix vorzulegen und als seine eigenen auszugeben. Als der Kleine aus dem ersten Malalter heraus war, gelüstete es ihn eines Tages, einmal einen Baum im Garten abzuzeichnen. Das war just an dem Tag, da Morgenthaler zu Besuch war. Mit seinem Zeichenzeug ging er in den Garten und kam nach einer Weile ganz enttäuscht zurück und sagte: „Du, Papi, Kitsch ist aber schwer"!