Links und rechts im Bilde

Es ist eine bekannte Tatsache, dass wir unsere optischen Eindrücke nicht so registrieren wie ein Photoapparat oder wie sie tatsächlich auf der Netzhaut eintreffen, nämlich als ein Totales. Wir lesen die Bilder in unbewusster Schnelligkeit von links nach rechts. Das hat seine Konsequenzen für den Maler, den Zeichner: Das Bild als zeitliche Abfolge.

Wir werden aufmerksam auf diesen Vorgang, wenn z.B. ein Dia verkehrt in den Projektor gerät. Ist es die Reproduktion eines uns wohlbekannten Kunstwerkes, so ist es nicht nur verfremdet durch die Vertauschung der Seiten, auf einmal stimmen die Akzente nicht mehr, die Bildgewichte sind aus der Ordnung, das Bild aus dem Gleichgewicht. Handelt es sich um eine Landschaftsaufnahme von einer Reise, so wird der Photograph mit einigem Erstaunen bemerken, dass die Baumgruppe, die er am linken Bildrand als vorbereitenden Ausgangspunkt für den Blick in die weite, flache Landschaft ins Bild genommen hat, auf einmal Hauptmotiv ist und der Blick nun von der weiten Landschaft her auf die Baumgruppe zukommt. Mit der Bildseite wird auch die Rolle getauscht.

Es ist klar, dass dieses gestaffelte Aufnehmen von links nach rechts mit unserer rechtsläufigen Schrift zusammenhängt. Man kann sich fragen, ob die Schrift unser Sehen beeinflusst hat oder ob sie aus einer ursprünglichen inneren Rechtsläufigkeit heraus selber so geworden ist. Schrift- und Bildablauf bei den Ostasiaten sind linksläufig. Die Japaner und Chinesen sind aber eben am Umstellen auf unsere Rechtsläufigkeit. Hat das eine bloss praktische Anpassung an die Weltwirtschaft, oder äussert sich  darin ein grundsätzlicher Wechsel der psychischen Haltung? Wenn wir die linke Seite als  Herz- und Gefühlsseite nehmen, als die Seite des Innern, Verborgenen, Passiven, bedeutet die Bewegung daraufhin ein Insichgehen, ein kontemplatives Versenken, während der Zug nach rechts,  zur Tathand, in die Aussenwelt führt, die Weite, die Aktion und das Wollen. In diesem Sinne glaube ich den Richtungswechsel der ostasiatischen Schrift als Ausdruck eines grundsätzlichen Wechsels des Bewusstseins deuten zu können. Und unsere eigene Schrift ist doch wohl ein Bild unserer westlichen Mentalität der Expansion, der Richtung auf das Sichtbare und den Besitz. Die senkrechte Anordnung der altägyptischen Schriftzeichen strahlt eine hieratische Statik aus.

Mancher junge Künstler, der einen Holzstock oder eine Radierplatte andruckt und nun das Spiegelbild vor sich hat, nachdem er vielleicht tagelang über die Platte gebeugt, im Gegensinne gearbeitet hat, wird schockartig mit dieser Umwertung der Bildelemente durch die Umkehrung konfrontiert. Er wird sich damit auseinandersetzen, die Wirkung studieren und sich zunutze machen. Bei Kandinsky („Punkt und Linie zur Fläche") kann er sich über das verschiedene Gewicht der Teile einer Bildfläche Bescheid holen und über die gegensätzliche Spannung, welche die beiden ( geometrisch gleichwertigen) Diagonalen darstellen. Das beruht ja alles auf der Tatsache des zeitlichen Sehens, des Bildablesens.

Es ist interessant, einmal nachzusehen, ob die alten Meister die Umkehrung bei der Druckgraphik in Kauf genommen oder, um sie zu vermeiden, mit einer Gegenpause gearbeitet haben. Von Dürer sind die Vorarbeiten zum Kupferstich „Ritter, Tod und Teufel" erhalten. Den endgültigen Entwurf hat er sorgfältig auf die Rückseite des Blattes durchgezeichnet und nach dieser spiegelbildlichen Pause gestochen. Offenbar legte er Wert darauf, den Ritter nach links reiten zu lassen. Es handelt sich ja um einen inneren Vorgang, um eine Reise zu sich selber, nicht um einen abenteuerlichen Ausritt. Und das wäre es im Gegensinne gewesen. Seine „Melancholie" kann man sich nach rechts gerichtet gar nicht vorstellen, die ziellose Resignation wäre nicht mehr spürbar. Ich behaupte nicht, dass Dürer diese Überlegungen angestellt hat, als Meister hat er einfach das Richtige getroffen.

Was von Rembrandt an Zeichnungen zu Radierungen erhalten ist, lässt vermuten, dass er die Umkehrung in Kauf nahm („Der heilige Hieronymus in bergiger Landschaft", 1653; „Der Zeichner und das Modell" u.a.). Seine Landschaftsradierungen sind direkt vor der Natur radiert, zeigen also, auch wenn es sich um Ansichten von Amsterdam handelt, das Spiegelbild. Auch die Reproduktionen nach eigenen Gemälden geben den Gegensinn wieder.

Munch in seiner explosiven Arbeitswut hat auf die Umkehrung nie geachtet. Er hatte offenbar die Gemälde vor sich, wenn er die graphische Fassung davon auf die Platte brachte. Da seine Bilder weniger Peinture sind, als vielmehr bildliche Formulierungen von Seelenzuständen, ist es sehr aufschlussreich, den Stellenwert der Bildseiten in diesen spiegelbildlichen Fassungen zu vergleichen. Als einziges Beispiel die „Mädchen auf der Brücke": Im Bilde starren sie nach links in das riesige Dunkel des Wassers hinunter. Die finstere Masse des mit seiner Spiegelung kugeligen Baumes wirkt in diesem Gefälle von links nach rechts erdrückend auf die Mädchengruppe im gewichtigsten Viertel der Bildfläche unten rechts. Der Eindruck ist der von Beklommenheit und vergeblichem Fragen. Der Holzschnitt tauscht die Seiten, und die Mädchen schauen nun einfach ins Wasser. Den Verlust an Stellenwert der Bildelemente  macht Munch wett durch rein graphische Mittel, besonders die „bestürzende" senkrechte Struktur des Himmels.

Goya hat für seine Radierungen nach seinen Rötel- und Kreidezeichnungen sorgfältige Gegenpausen gemacht. Bei seinem Gemälde „Die Erschiessung der Aufständischen" wirkt die Situation deshalb so ausweglos, weil die Gewehre des Pelotons dem natürlichen Gefälle links-rechts entgegenstehen und jede (erwartete) Bewegung nach rechts, in die Freie, aufspiessen. Dazu kommt, dass der Betrachter sich überhaupt und unwillkürlich mit den Figuren auf der linken Bildseite identifiziert und von ihnen aus das Bild erlebt; erfühlt sich in diesem Falle selber an die Wand gestellt. In der Umkehrung geht der Blick viel mehr von den Schützen aus, ihre Bewegung wirkt zwar rasanter, das Mit-Leiden mit den Exekutierten und ihrer Hoffnungslosigkeit ist aber nicht mehr so unmittelbar und zwingend. Durch die Stellung der Figuren im Bildraum wird der Betrachter zu einer Parteinahme gezwungen. Das entspricht der „Parteinahme der Kamera" beim Film.

Mögen diese Überlegungen für die Bildkomposition wichtig sein, für die Illustration sind sie von ausschlaggebender Bedeutung. Die Illustration wird ja vom Leser erblickt mitten in der tausendfach wiederholten Bewegung der Augen über die Zeilen hin von links nach rechts, und alles, was über das gestaffelte Ablesen der Bilder gesagt wurde, wird hier doppelt wichtig. Ein sensibler Zeichner wird die Komposition intuitiv in diesen Ablauf einbauen, ein bewusstes Überprüfen nach diesen Gesichtspunkten wird ihn aber bei Unsicherheit und Zweifel die bessere, eindrücklichere Lösung finden lassen.

Zwei Beispiele mögen für viele stehen, ein äusserer Vorgang und ein innerer:

Ein Reiterzug nach rechts ist frischer, morgendlicher Bewegung in die Weite, der Leser reitet mit. Im Gegensinne kommt er ihm entgegen, er reitet heim oder ist geschlagen. Jede Bewegung nach rechts wirkt heftiger, reisst mit; die Umkehrung wird als Gegenaktion empfunden.

Oder das innere Geschehen: Es gehört zur Ikonographie der Verkündigung an Maria, dass der Engel von links kommt. Er kommt aus der verborgenen Welt Gottes, aus der tiefen Innerlichkeit heraus in die sichtbare und dingliche Welt der Maria. (Die berühmteste Ausnahme ist die Verkündigung im Isenheimer Altar. Das Kommen von rechts in diesem rechtsseitigen Flügelbild ist hier durch die Gesamtkonzeption des Altarwerkes bedingt).

Die Kompositionselemente, figurative oder abstrakte, haben also durch ihre Position links oder rechts im Bilde ihren besonderen Stellenwert, ihre Blockierung oder Bewegungsmöglichkeit. Diese Bewegung ihrerseits hat wieder ihre Bedeutung nach der Symbolik der Richtungen, je nachdem sie dem Links-rechts-Gefälle folgt oder zuwiderläuft.

Dazu kommt, dass Illustrationen Glieder einer Kette sind, die sich ihrerseits von links nach rechts aufreihen und jedes Rechts-Links als ein Zurück empfunden wird, und, weil dies gegen das Gefälle geht, besonders stark empfunden wird.